ip.labs

Eine Idee entsteht

Bonn, Ende 2002

Frank Thelen hatte sich zwar eine blutige Nase geholt – doch es hätte ihm, wie leider einigen Weggefährten von früher, wirtschaftlich und gesundheitlich schlimmer gehen können. In den wilden Monaten und Jahren des Neuen Markts war Frank Thelen, wenn auch vielleicht nicht vollständig, so doch immerhin weitestgehend erwachsen geworden und darüber hinaus dem Fegefeuer der Privatinsolvenz entkommen. Er hatte viel Lehrgeld gezahlt, aber er hatte auch eine Menge Lebenserfahrung gewonnen und ordentlich was gelernt – vor allem charakterlich, aber durchaus auch fachlich: Mit der twisd AG hatte er auch zwei erfolgreiche Community-Sites aufgebaut und sich in diesem Bereich eine gewisse Kompetenz erarbeitet.

Eine davon war hallo.de, eine Flirtplattform mit Profilen, Chats und Bildern der User, weit vor der Facebook-Zeit und damals allen anderen Plattformen technisch überlegen. Glücklicherweise zahlten einige Werbe-Unternehmen zu dieser Zeit noch Tausender-Kontakt-Preise, das heißt, dass es für tausend Seitenaufrufe eine garantierte Summe an Werbeerlösen gab. Heutzutage wird Werbung meistens nur noch gegen erfolgreiche Verkäufe vergütet. Und wenn es noch TKP-Preise gibt, sind diese um ein Vielfaches niedriger. hallo.de hatte aber damals täglich zehntausende Seitenabrufe und folglich durch diese TKP-Anzeigen stabile Einnahmen. Frank Thelen und sein Team verkauften das Portal schließlich an einen erfolgreichen Player im deutschen TV-Markt.

Dann gab es noch bilder.de. Unter dieser Domain wollte Frank Thelen ursprünglich eine professionelle Foto-Community aufbauen, auf der man Bildrechte handeln kann, also einen Marktplatz für Fotografen und Käufer von Bildern. Heute gibt es Portale für Stockfotos ohne Ende, sowohl gratis als auch gegen Vergütung. Von Instagram, Pinterest oder Facebook träumte damals noch kein Mensch. Wahrscheinlich war die Zeit für Frank Thelen und sein Team einfach noch nicht reif dafür. Deswegen hob dieses Geschäftsmodell leider auch nicht so richtig ab. Und so suchte er nach Alternativen, mit bilder.de Geld zu verdienen: Der Oldenburger Filmbelichter CeWe Color bot ein Plugin für Websites an, mit dem man einzelne digitale Bilder als Fotoabzug bestellen konnte. Es war also genau der entgegengesetzte Weg zu dem, den Frank Thelen eigentlich gehen wollte: statt von der analogen zur digitalen also wieder von der digitalen zurück in die analoge Welt. Der Markt für digitale Fotografie steckte ja noch in den Kinderschuhen. Es gab noch keine Smartphone-Kameras, aber unter jedem zweiten Christbaum lagen bereits Digitalkameras, die mit dem Computer verbunden werden konnten. Die Möglichkeit, seine Bilder im Netz hochzuladen, war also gegeben, und die Menschen fingen langsam an, sie zu nutzen. Doch was dann? Hier erkannte CeWe die Chance - und Notwendigkeit - sein Geschäftsmodell in die digitale Welt zu transferieren. Das Plugin erlaubte es, digital geschossene Bilder wieder physisch als Abzug in den Händen zu halten – komfortabel bestellt im Internet. Der Ansatz von CeWe und die Reichweite von bilder.de passten für Frank Thelen perfekt zusammen. Er integrierte den Service einfach in seine Website. Und wenn einer der Besucher Abzüge bestellte, erhielten sie für jeden Auftrag 30 Prozent Provision. Das Geschäft lief recht gut an, so dass Frank Thelen merkte: Da gibt es offensichtlich wachsenden Bedarf. Bloß: Die von CeWe bereitgestellte Software genügte seinen technischen und ästhetischen Ansprüchen nicht: Es war ein grausam designtes, langsames und fehleranfälliges Java-Plugin – und Java als Programmiersprache ist in seiner Ansicht ohnehin wirklich “böse”.

Es geht wieder los: die Gründung von ip.labs

Bonn, 2003

Frank Thelen spürte, hier entsteht gerade eine neue und schnell wachsende Industrie. Sollte es also doch für etwas gut gewesen sein, dass er mit der twisd AG auf so vielen Hochzeiten getanzt hatte?

Klar war ihm jedenfalls: Analoge Filmrollen würden bald nicht mehr relevant sein und es würde ein Softwareanbieter für digitale Bilder benötigt – also eine Plattform, mit der man seine Fotos online verwalten und mit der Familie, den Freunden und Kollegen teilen sowie sich als Abzug oder Poster bestellen kann. Heute ist das Standard, im Jahr 2004 war es sprichwörtlich Raketen-Wissenschaft.

Er sagt das mit dem Außergewöhnlichen, das zum Standard geworden ist, öfter, er weiß. Aber da sie über die Vergangenheit sprechen, muss man es immer wieder mal erwähnen. Damals war es neu. Das heißt, die Grundidee war bereits da – aber Frank Thelen wollte eine Plattform entwickeln, die hochwertige Technologie mit herausragendem Design vereint, und das gab es noch nicht. ip.labs war geboren.

Da war es also, sein nächstes Abenteuer!

Dieses Mal musste er die Firma ohne fremdes Kapital starten, denn als jung-erfolgreich-dynamischer Start-up-Unternehmer war Frank Thelen damals verbrannt: Wer investiert schon in den Verlierer Thelen? Das ist ein in Deutschland tief sitzendes Gefühl: Einmal gescheitert, immer gescheitert. Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitermachen – das muss man hierzulande mehrfach hinbekommen, bis einem die Leute glauben, dass man es wieder schaffen kann, wenn man auf die Nase gefallen ist.

Aber rückblickend hat es Frank Thelen geholfen, dass niemand bereit war, seine neue Idee zu unterstützen. Der Venture-Capital-Weg, Anteile gegen Startkapital abzugeben, war ihm verschlossen. Und da man als Unternehmer immer wieder neue Wege suchen muss, versuchte Frank Thelen es mit folgendem Plan: Es gab damals eine neue Software, mit der man Webseiten auf eine Art erstellen konnte, dass sie sich so anfühlten, als würden sie funktionieren. Tatsächlich war keine echte Funktionalität dahinter. Aber wenn man auf einen Button klickte, rief der einfach wie im echten Internet die nächste Seite auf und es fühlte sich wie ein echtes Produkt an. Click-Dummies nennt man das heute. Auf diese Weise konnte er ohne zu hohe Kosten etwas Vorzeigbares basteln.

Jetzt musste Frank Thelen “nur” noch herausragende Entwickler für ip.labs gewinnen, denn seine Produktidee war gut, aber nicht einfach umzusetzen. Aus Chips at Work-Zeiten kannte er Georg Sommershof. Wann immer Frank Thelen mit Delphi nicht weiterkam oder komplexe Entscheidungen über die Architektur treffen musste, war Georg ein zuverlässiger Ratgeber. Er hatte deutlich mehr Erfahrung, ein tiefgreifendes Verständnis von Compilern und er war ein Mathematik-Genie. Dann erinnerte sich Frank Thelen an Alex Koch, der zufälligerweise an einem ähnlichen Produkt arbeitete, und auch in Bonn lebte. Sein Wissen in den Bereichen Java, Server und Infrastruktur hatte ihn tief beeindruckt.

Frank Thelen überzeugte Alex Koch und Georg Sommershof von dem Potenzial des Produktes – und da er ihnen kein Gehalt zahlen konnte, beteiligte er beide an seinem Unternehmen. Einem befreundeten Designer versprach er großartige Aufträge in der Zukunft, wenn dieser ihm beim Start für sehr kleines Geld helfen würde.

Sie mieteten ein Büro in einem der weniger guten Stadtteile von Godesberg. Der Vorteil: Sie mussten in den ersten drei Monaten keine Miete zahlen, wenn sie einen Fünf-Jahres-Vertrag unterzeichneten. Der Nachteil: Dort wurde nahezu wöchentlich eingebrochen – zum Glück nicht bei ihnen, da sie im oberen Stockwerk saßen. Doch der Firma im Erdgeschoss wurde eines Tages der Server bei einem Einbruch gestohlen.

Der Server selbst war damals gar nicht der größte Schaden, die Hardware kostete nicht viel. Auf dem System aber waren die gesamten Daten der Firma abgelegt – und da es damals noch keine Cloud für den Backup gab, ging die Firma nach diesem Einbruch pleite.

Frank Thelen und sein Team arbeiteten zwei Monate Tag und Nacht – und eines Morgens war der Click-Dummy fertig. Und da war es wieder, das tolle Start-up-Gefühl, das Frank Thelen auch heute noch so liebt, trotz der harten Vergangenheit. Das Ding sah super aus und war damals die perfekte Fotoplattform, mit nur einem Nachteil: Sie war eben nur ein Dummy und funktionierte nicht wirklich. Frank Thelen wusste, dass sie das einmal tun würde – aber um damit wirklich an den Start  zu gehen, würde man ein größeres Team und viel Kapital für die Entwicklung benötigen. Immerhin hatte Frank Thelen exakt im Kopf, was er zu tun hatte, um die Plattform tatsächlich zum Laufen zu bringen. Er präsentierte den Click-Dummy einem großen Kunden und behauptete:

“Wie ihr seht, fast fertig!”

“Wow! Darf ich das mal testen?”, fragte der Kunde.

“Nein, das ist leider noch streng geheim!”, antwortete Frank Thelen. “Aber das ist ein wirklich revolutionäres Produkt! Wenn ihr die ersten sein wollt, die das anbieten, müsst ihr 30 Prozent Anzahlung leisten. Die Nachfrage ist riesig – und daher bedienen wir nur Kunden, die die Anzahlung schnell leisten.”

Natürlich war die Software nicht fertig. Natürlich gab es keine anderen Interessenten. Aber Frank Thelen brauchte – verdammt noch mal – die Anzahlung, damit er sich ein kleines Team leisten konnte. Er hatte verflixt viel Glück, denn der große Kunde biss an. Zu Recht, glaubte er, denn die Plattform war innovativ und gut geplant, und der Markt dafür stand kurz davor, zu explodieren. Der Kunde leistete die Anzahlung – und er hat die Entscheidung am Ende nicht bereut. Das Team nannte die Plattform IPS: Internet Photo System.

Sehr schnell stellte Frank Thelen weitere Entwickler und noch einen Designer ein, um mit der “echten” Arbeit zu beginnen. Bisher war ja alles nur eine Pappfassade: Ein Pilotprojekt, quasi ein Auto ohne Motor, das von außen super aussah, aber eben noch nicht fahren konnte. Die von ihm versprochenen Liefertermine waren leider viel zu optimistisch. Der Kunde wurde unruhig – er hatte das Ding doch schon in fast fertigem Zustand gesehen! Irgendwann schlug “unruhig” um in “ungehalten”. Der Ton wurde rauer. Glücklicherweise gab es keinen zweiten Softwareanbieter für online-Fotoservices. Sie waren die einzigen, die einen Prototyp hatten. Offenbar waren sie zu dem Zeitpunkt sogar die einzigen, die überhaupt eine Vision hatten, was da möglich war – und hofften, bald liefern zu können…

Nachdem die ersten Teile der Plattform wirklich funktionierten, ging es dann schneller: Frank Thelen verkaufte weitere Lizenzen, natürlich gegen weitere Anzahlungen. So konnten sie Schritt für Schritt ein echtes Unternehmen aufbauen, ohne Geld von externen Investoren zu erhalten. Es war allerdings jeden Monat die Quadratur des Kreises: Sie erhielten Geld als Vorauszahlungen, mussten aber laufende Gehälter und Miete zahlen und brauchten dann im nächsten Monat wieder neue Anzahlungen. Sein eigenes, kleines Schneeballsystem, als Ersatz für das unerreichbare Venture Capital. Nicht zur Nachahmung empfohlen, aber damals aus der Not heraus geboren. Und es gab eine legitime Motivation dafür: Frank Thelen fühlte, dass es diesmal wirklich funktionieren könnte.

Da sein ganzes Konstrukt allerdings mit sehr heißer Nadel gestrickt war, brauchte er einen BWLer, der die Finanzen und Operations unter Kontrolle bekam. Und zwar brauchten sie nicht irgendeinen BWLer, sondern einen verdammt guten, der bereit war, Tag und Nacht zu arbeiten und im Monat mit 1.000 Euro klarzukommen. Aber wenn sich jemand auf diesen Deal einließe – wäre er dann ein verdammt guter BWLer? Frank Thelen hätte erneut eine Beteiligung anbieten können, aber zu diesem Zeitpunkt bot eine Beteiligung nicht mehr als eine ungewisse Aussicht auf einen Gewinn.

Frank Thelen fiel ohnehin nur einer ein, dem er die Aufgabe inhaltlich zutraute: Marc Sieberger. Marc war wie Frank Thelen auch Skateboarder, und beide hatten nach der Skateboardzeit zusammen in einer WG gewohnt. Marc wurde Investmentbanker und ging dann auf die Elite-Uni WHU, die “Wissenschaftliche Hochschule für Unternehmensführung, Otto Beisheim School of Management”. Marc war für Frank Thelen die einzige Chance. Menschen, die Frank Thelen nicht kannten, würden dankend ablehnen. Und sicher auch viele Menschen, die ihn kannten. Aber Marc und Frank Thelen kannten sich wirklich gut, und Frank Thelen sah eine kleine Chance, ihn zu überzeugen. Sein Studium lief noch zwei Monate – und Frank Thelen wusste, dass er noch nirgendwo anders unterschrieben hatte. Frank Thelen lud Marc zum Italiener ein – und bei Pizza Salami und Cola pitchte er ihm ip.labs:

“Wir sind die einzigen, die das machen können, Marc. Da ist ein riesiger Markt! Ich weiß, du hast Angebote von McKinsey und BCG. Aber da bist du einer unter vielen. Das kann doch jeder!”

Es war für Frank Thelen die wahrscheinlich am besten investierte Pizza Salami aller Zeiten: Nach zwei Monaten stimmte Marc zu. Frank Thelen hatte tatsächlich gegen McKinsey & Co. gewonnen, er wollte mit ihm ip.labs aufbauen. Yes!

Marc, Alex, Georg und Frank Thelen zahlten sich in der Regel monatlich 1.000 Euro aus, um wenigstens ihr Essen und die Miete ihrer Studentenbuden zahlen zu können. Und nach etwas über einem Jahr - der erste Kunde war übrigens immer noch an Bord - hatten sie tatsächlich das Unmögliche möglich gemacht: die weltweit erste Softwareplattform zur Verwaltung und Produkt-Bestellung für Digitalfotos konnte live gehen.

Fotobuch & Co.

Frank Thelen und sein Team überzeugten immer mehr große Drogerieketten, Supermärkte und andere Händler, dessen Endkunden ihre Bilder über ihre Plattform verwalten und Fotos bestellen sollten. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und Holland waren sie schon bald der dominante Player in einem rasant wachsenden Markt. Mit der Zeit boten sie weitere Produkte wie Grußkarten, Kalender, bedruckte Mousepads und Kaffeetassen an – das volle Programm.

Einen weiteren Wachstumsschub gab ein neues Produkt: das Fotobuch. Mit diesem konnten Kunden nicht nur Abzüge von einzelnen Fotos bestellen, sondern ein komplettes Buch gestalten. Dafür musste die Software zum ersten Mal hunderte Bilder mit Rahmen und Textlayouts verarbeiten. Einzelne Fotos auszuwählen und auf einem Poster oder einer Tasse als korrekte Vorschau anzuzeigen, war schon eine Herausforderung für Frank Thelen und sein Team. Aber einen kompletten Buch-Editor für so viele Fotos zu entwickeln, der auch noch schnell und einfach funktioniert, war eine Herkulesaufgabe. Ihr Editor schlug automatisch für eine Auswahl vieler Bilder ein passendes und schönes Layout vor, setzte die Fotos in das korrekte Seitenverhältnis und erkannte Probleme wie zu niedrige Auflösungen. Glücklicherweise konnten sie sich mittlerweile über 50 Entwickler in Vollzeit leisten. Ihr technologischer Vorsprung vor eventuellen Mitbewerbern wuchs von Monat zu Monat, und ihre Kunden wie CeWe Color oder Fujifilm investierten Millionen in ihre Produktionsanlagen, um nicht nur Poster, sondern komplette Bücher produzieren zu können. Dafür musste beidseitig gedruckt werden können und es wurden Maschinen zur Buchbindung benötigt. Frank Thelen und sein Team hatten diesen neuen Markt mitbegründet und bauten ihren Vorsprung monatlich aus.

PMA – Vegas, Baby!

Bonn - Las Vegas 2006

Frank Thelen und sein Team arbeiteten rund um die Uhr. Ständig tauchten neue, dringende Probleme auf, die behoben werden mussten. Das Tagesgeschäft verschlang sie, sodass sie kaum Zeit hatten, sich systematisch mit der Konkurrenz oder der Marktsituation auseinanderzusetzen. Sie hatten keinen Überblick, wie gut sie wirklich waren. Doch eines Abends, tief in der Nacht, stolperte Frank Thelen über Informationen zu einem Verband für Photomarketing, der PMA (Photo Marketing Association) und deren jährlich stattfindender Messe in Las Vegas. Dort mussten sie hin! Und zwar nicht nur als Besucher, sondern mit einem eigenen Messestand! Von dort aus würden sie die Welt erobern wollen… Frank Thelen griff sofort zum Telefon und aufgrund der Zeitverschiebung erreichte er sogar noch jemanden. Begeistert erzählte er von ihrer Software und ihrer Marktführerschaft in Europa. Doch die Kommunikation war schwierig und kühl. Der Mensch am anderen Ende des Telefons fragte nur, ob sie amerikanische Kunden hätten.

“No, but we work for T-Mobile!”

T-Mobile kannte er: “OK”, antwortete er wenig begeistert, “I will check if we can send you an offer for a booth.”

Diese Erfahrung, dass Europa für viele US-Amerikaner kaum existent ist, musste Frank Thelen später noch öfter machen. Aber schließlich hatten sie Glück: Sie durften 8.000 US-Dollar ausgeben, um einen kleinen Messestand aufzubauen. Frank Thelen und Marc flogen nach Las Vegas, natürlich Economy. Sie hatten zwei Notebooks, einen Monitor, zwei Werbebanner und ein Poster dabei, das ihr IPS-Produkt erklärte. Das war’s.

Um sechs Uhr morgens durften Frank Thelen und sein Team die Halle betreten und ihren Stand aufbauen. Ab neun Uhr wurde die Messe eröffnet. Trotz Jetlag und Schlafmangel waren sie gut gelaunt und wahrscheinlich die aktivsten Verkäufer auf der ganzen Messe. Große Firmen wie Hewlett-Packard oder Fujifilm hatten beeindruckende Stände, während sie nur eine kleine Theke neben den Toiletten hatten. Dies war wahrscheinlich der günstigste Stand, aber er hatte einen großen Vorteil: Jeder musste irgendwann daran vorbeigehen! Sie sprachen jeden Besucher an, voller Energie und Wissen, dass sie nur drei Tage Zeit hatten. Und es hat sich gelohnt: Sie kamen mit zwölf heißen Leads zurück und konnten fünf davon als Kunden gewinnen. Der Trip nach Las Vegas war ein Risiko, aber Frank Thelen und sein Team hatten ihren Jackpot geknackt.

In den folgenden vier Jahren besuchten sie jedes Jahr die Messe in den USA, und ihr Stand wurde stetig größer. Im zweiten Jahr waren sie sogar zu sechst vor Ort, inklusive zweier Muttersprachler und zwei Projektmanagern. Das Team war natürlich begeistert: Las Vegas! Die Casinos! Endlose Partys! Und tatsächlich ließen es große Partner wie Hewlett-Packard und Microsoft richtig krachen. Aber für Frank Thelen und sein Team ging es nicht nur um Spaß. Frank Thelen musste der Partyspielverderber sein und bestand darauf, dass alle Partys um 23:00 Uhr endeten. Schließlich mussten sie am nächsten Morgen um 08:30 Uhr wieder fit und ausgeschlafen in der Messehalle sein. Also ging es zurück ins Hotel.

Nur ein einziges Mal konnte “Daddy” Frank Thelen nicht aufpassen. Er musste einen Tag früher nach Europa zurückfliegen, um einen wichtigen Kunden zu treffen. Das Team nutzte diese Gelegenheit und feierte im berühmten Tao Nightclub bis in die frühen Morgenstunden. Am nächsten Tag verpassten alle ihren Rückflug. Bis heute hat Frank Thelen nie nach den Einzelheiten gefragt und er ist sich nicht sicher, ob er sie überhaupt wissen möchte… Wie man so schön sagt: “What happens in Vegas stays in Vegas.”

Der Markt wird heiß

Irgendwann konnten Frank Thelen und sein Team sich beim besten Willen nicht mehr als die sympathischen Underdogs bezeichnen. Sie waren zu einem bedeutenden Player im Online-Foto-Business aufgestiegen, bedienten Kunden in über 50 Ländern und verfügten über fünf eigene Rechenzentren. Tatsächlich waren sie sogar zum Weltmarktführer in dieser speziellen Nische geworden. Über 100 Millionen Menschen hatten ihre Desktop-Software installiert oder ihre Dienste über die Websites großer Einzelhändler genutzt.

Eines Tages erhielt Frank Thelen einen Anruf von T-Venture, einer damaligen Tochterfirma der Deutschen Telekom, die in Technologie-Start-ups investierte. Sie wollten mehr über das Geschäft erfahren und schickten nur wenige Tage später ein Termsheet. Andere große Akteure aus der Fotobranche zeigten ebenfalls Interesse an einer vollständigen Übernahme. Plötzlich kamen Investoren zu Frank Thelen, anstatt dass er sich aktiv um Finanzierungen bemühen musste.

Würde Frank Thelen am Ende doch ein erfolgreicher Unternehmer werden?

Er kannte mittlerweile beide Seiten: das Scheitern und den Erfolg. Bei beiden spielen auch externe Faktoren eine Rolle, wie die generelle Marktlage oder schlichtweg Glück. Für solche Erfahrungen hatte Frank Thelen schon einmal einen hohen Preis gezahlt. Dieses Mal jedoch hatte er mit Marc und dessen Erfahrung im Investmentbanking einen kompetenten Partner an seiner Seite.

Gemeinsam wägten sie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen ab:

  • Entweder sie verkaufen

  • oder sie nehmen Venture Capital auf, um noch schneller zu wachsen,

  • oder sie wachsen langsamer aus eigenen Mitteln.

Ein Verkauf erschien Frank Thelen attraktiv: Er wäre dann zwar “nur” noch Geschäftsführer und nicht mehr Eigentümer seines Babys. Im Zweifelsfall würden jetzt andere die wirklich wichtigen Entscheidungen zu Produkt und Team treffen, darüber war sich Frank Thelen im Klaren. Aber auf der anderen Seite hatte Frank Thelen schon so viel Dreck gefressen, so viel gelitten und durchgemacht, dass die Aussicht überaus reizvoll erschien, mit 32 Jahren finanziell unabhängig zu werden. Auch für Marc, Georg und Alex war der Exit der attraktivere Weg.

Sie verhandelten mit Fujifilm und CeWe Color parallel. Es stellte sich aber schnell heraus, dass CeWe Color eher günstig einen Dienstleister kaufen wollte und nicht ernsthaft am Produkt und der Firma von Frank Thelen interessiert war. Das Ergebnis war ein unattraktiver Kaufpreis und düstere Aussichten für die Zeit des Earnouts.

Fujifilm hingegen war ein globales Unternehmen und plante die weltweite Vermarktung ihrer Plattform. Außerdem sollten Marc, Alex, Georg und Frank Thelen nach dem Verkauf die Digitalisierung der Fujifilm-Gruppe voranbringen. Dieses Paket gefiel ihnen deutlich besser.

Der Verkauf

Bonn und Tokio – 2007-2009

Der Vice President von Fujifilm Europe, Uli Kraus, übernahm die Rolle des Deal-Champions für ip.labs. Er war es, der das Unternehmen entdeckte, zahlreiche Fujifilm-Kunden erfolgreich auf ihre Plattform brachte und das Digital-Geschäft mit dem IPS-Produkt erweitern wollte. Uli Kraus knüpfte den Kontakt zu den Kollegen in Japan. 2007 kam der entscheidende Moment: Eine Delegation aus zehn Japanern, angeführt von Aoki-San, reiste aus Japan nach Bonn, um Verhandlungen aufzunehmen. Englisch war nicht die Stärke der Gruppe, was Aoki-San jedoch nicht davon abhielt, sich zu versuchen.

Frank Thelen erinnert sich genau an diesen Tag. Er hatte sich tagelang vorbereitet, denn ihm war bewusst, dass dies die bisher wichtigste Präsentation seines Lebens war. Er führte aus, wie ip.labs zum Weltmarktführer für Online-Foto-Services wurde, warum die größte Handelskette aus den USA zu ihrer Plattform wechseln wollte und wie sie auf ihrer technischen Basis schnell neue Produkte auf den Markt bringen konnten. Tief in seine Präsentation vertieft, voller Begeisterung und Überzeugung, wurde er plötzlich durch ein Schnarchen von Aoki-San abgelenkt. Ein anderer Kollege war ebenfalls eingenickt. Verunsichert brach Frank Thelen die Präsentation ab, was die noch wachen Japaner verwirrte. Uli Kraus, vertraut mit der japanischen Geschäftskultur, beruhigte ihn und sagte: “Mach einfach weiter, das ist in Japan völlig normal!”

Damals schien das Frank Thelen sehr merkwürdig: Die Japaner diskutierten nicht während eines Meetings. Sie saßen still und zeigten keinerlei Reaktion, was es ihm schwer machte zu erkennen, ob sein Vortrag die potenziellen Käufer beeindruckte oder nicht. Deutsche Kollegen diskutierten untereinander und waren oft unterschiedlicher Meinung. Das japanische Verhalten fand er seltsam. Heute versteht er, dass in Japan wichtige Entscheidungen im Vorfeld beim sogenannten “Nemawashi”, dem “Um-die-Wurzeln-Herumgehen”, getroffen werden. Nach Abschluss des Nemawashi gibt es keine weiteren Diskussionen, um das Gesicht zu wahren.

Nachdem er zwei Tage Produkt, Team, Firma, Finanzen und Verträge präsentiert hatte, verließ Aoki-San mit seiner Delegation Deutschland. Sie verabschiedeten sich mit asiatischer Höflichkeit voneinander. Frank Thelen war unsicher, wie das Meeting gelaufen war und ob Fujifilm an einem Kauf interessiert war. Er checkte ständig seine E-Mails, in der Hoffnung, eine Antwort aus Japan zu erhalten, ohne selbst nachfragen zu müssen. Sein Geschäft lief gut, und sie gewannen ständig neue Kunden. Dennoch wollte er den Erfolg auch finanziell absichern, da er aus Erfahrung wusste, dass sich das Geschäftsklima schnell ändern kann. Nach zwei langen Wochen erhielt er endlich eine E-Mail von Aoki-San.

Fujifilm is interested in buying your company. Please arrange a meeting in our Tokyo HQ with my assistant.”

Frank Thelen und sein Team sollten also zu einem Treffen ins Hauptquartier in Tokio kommen.

Lost in Translation

Tokio, Düsseldorf, Bonn, 2008

Und dann flogen Frank Thelen und sein Team nach Tokio.

Dort lernte er, was es bedeutet, in Japan Arbeitnehmer zu sein. Man lebt und stirbt für die Firma. Unten sitzen Hunderte von Mitarbeitern in Legebatterien und geben ihr Leben für das Unternehmen. Jeder hat exakt 1,20 Meter Breite Platz, keine Trennwände. Der Abteilungsleiter hat einen 1,60-Meter-Schreibtisch mit etwas Freiraum daneben. Aber der große CEO hat die oberste Etage und dazu 30 Sekretärinnen nur für sich alleine.

Die meisten Mitarbeiter sehen ihre Familien kaum – selbst abends ist man mit Kollegen unterwegs und trinkt Sake. In den Unternehmen von Frank Thelen wird das Gegenteil gelebt: Jeder Mensch braucht Freiraum, um großartige Produkte zu erschaffen. Arbeite zehn Stunden konzentriert, aber dann mach Sport, gehe zu deiner Familie oder zu deinen Freunden. Wenn es der Firma hilft, kann jeder in Frank Thelens Büro arbeiten und er braucht erst recht keine 30 Sekretärinnen. Japan war für ihn ein harter Kulturschock.

Für den Deal musste Frank Thelen öfters nach Tokio reisen – und während der letzten Verhandlungen saß ihm endlich der Finanzchef der Japaner gegenüber. Vor sich hatte er einen riesigen Solartaschenrechner mit einem neonfarbenen Katzenaufkleber. Er tippte irgendwelche Zahlen rein, blickte Frank Thelen an und sagte: “Oooh!” Das hätte alles bedeuten können, also fragte er nach. “Are you happy? Can we go to the US market?” Als Antwort kam nur ein brummendes: “Hmmmm”. So ging es die ganze Zeit. Es war überhaupt nicht klar, welche von Frank Thelens Botschaften ankam und was sein Gegenüber gerade dachte.

Irgendwann aber war es so weit, dass ein Vertragsentwurf aufgesetzt wurde. Und der war ganz schön heftig: Fujifilm war ein internationaler Konzern, der bisher keine Start-ups übernommen hatte. Das zeigte sich auch im Vertrag – ip.labs sollten dem Käufer zum Beispiel garantieren, keine verseuchten Erden zu verwenden, und sie sollten auch garantieren, dass durch sie keine chemischen Unfälle entstehen würden. Zudem sollten sie hierfür mit Summen haften, die um ein Vielfaches höher waren als der Kaufpreis. Sie hatten ein Büro, Computer, Tische, Stühle, … – womit hätten sie chemische Unfälle verursachen sollen?

Aber Frank Thelen wollte auf gar keinen Fall denselben Fehler noch mal machen: unbedacht etwas unterschreiben, was er später bereuen würde! Diesmal hatte er Marc an seiner Seite, der zusätzlich zwei sehr erfahrene Anwälte für sie mandatierte. Sie verhandelten Tage und Nächte in einer sehr noblen Düsseldorfer Kanzlei direkt an der KÖ. Frank Thelen erinnert sich bis heute an die edle Toilette – italienischer Marmor, indirekte Beleuchtung, sechslagiges Toilettenpapier – und pünktlich um 19:00 Uhr wurden feinste Delikatessen serviert.

Die inhaltlichen Verhandlungen waren nervenaufreibend und ohne ihre Anwälte Nicolas und Konstantin hätte Frank Thelen den Prozess nicht überstanden. Für ihn stand so viel auf dem Spiel, er wollte keine zehn Seiten unverständlicher Haftungsklauseln unterzeichnen. Nach der dritten Verhandlungsrunde hatten sie gegen 23:00 Uhr endlich eine Version, die für beide Seiten passte. Wenige Tage später saßen sie in Düsseldorf beim Notar, um den verhandelten Vertrag zu unterzeichnen. Marc hatte die ganze Nacht alles noch dreimal geprüft und man sah ihm den fehlenden Schlaf an. Frank Thelen sah sicher nicht viel besser aus. Ihre Anwälte hatten keine weiteren Anmerkungen, alles konnte wie verhandelt unterzeichnet werden. Doch gerade, als Frank Thelen den Stift ansetzen wollte, nahm ihn ein Fujifilm-Mitarbeiter zur Seite:

“Important document from our Tokyo HQ you need to sign, before we sign.”

Bevor die Japaner unterschreiben würden, sollte Frank Thelen also noch ein weiteres Dokument unterzeichnen – und zwar eines, in dem stand, dass er sich nicht mehr CEO nennen, sondern “nur noch” Geschäftsführer sein würde. Es würde nur einen CEO geben, und der säße nicht mehr in Bonn, sondern in Tokio. Frank Thelen hatte damit gerechnet, nicht mehr alles alleine entscheiden zu können, an dem CEO-Titel sollte es also nicht scheitern.

Als dann die Tinte trocken war, sollten Frank Thelen und sein Team direkt nach Japan reisen, um dort den echten CEO von Fujifilm zu treffen. Die erste Tranche des Kaufpreises war gerade angekommen – und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Frank Thelen Business Class gebucht. Dass Marc und er am Schalter von einer sehr netten Japanerin sogar in die First Class upgegradet wurden, feierten sie als ein gutes Zeichen. War das jetzt sein neues Leben?

In Tokio waren alle Japaner bei Fujifilm, mit denen sie zuvor Kontakt hatten, vor dem Meeting mit dem CEO wirklich angespannt – denn es ist das Lebensziel eines jeden Angestellten dort, sich einmal vor dem CEO verbeugen zu dürfen - so zumindest der Eindruck. Und sie durften als Youngster sogar ein echtes Meeting mit ihm haben, denn sie sollten ja jetzt als Teil seines Konzerns Innovations-Impulse in alle Abteilungen bringen. Damals hat Frank Thelen sich sogar so verrückt machen lassen, dass er extra eine Krawatte dafür angezogen hatte! Jeder, der ihn kennt, weiß, dass es einen höheren Grad an Hysterie kaum geben kann.

Dem CEO hat Frank Thelen dann beim Treffen erklärt, was er da eigentlich gerade gekauft hatte. Und er erklärte ihm auch, was in seinem Laden nicht rund läuft und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Sein Übersetzer, Shimumura-San, erbleichte. Es war offenbar eine Todsünde in Japan, dem Chef zu erklären, wo es dringenden Handlungsbedarf gibt. Zum Glück hat der CEO nicht so viel von dem verstanden, was Frank Thelen ihm da erklärte – und Shimumura-San war diplomatisch genug, seine Ausführungen den japanischen Gepflogenheiten entsprechend zu übersetzen. Als Frank Thelen fertig war, schaute ihn der CEO lange an, rollte mit den Augen und zeigte schließlich mit dem Finger auf ihn. Und dann sagte er nur zwei Worte: “You… strong!”

Frank Thelen hatte damals den Film “Lost in Translation” noch nicht gesehen und wusste auch nicht, dass er an dem Abend nach diesem Meeting exakt in derselben Bar saß, in der Bill Murray und Scarlett Johansson sich getroffen hatten. Aber das Gefühl der kompletten Ratlosigkeit angesichts einer rätselhaften Kultur – der Film spiegelt ziemlich genau dieses Gefühl wider, das er damals in Japan hatte.

Als Belohnung für den erfolgreichen Deal wurden Frank Thelen und sein Team für ein Wochenende in ein Onsen Resort eingeladen. Onsen sind die heißen Quellen Japans – und regelmäßig diese Bäder zu besuchen, das ist eine Tradition, auf die die Japaner sehr stolz sind. Vielleicht sollte man erwähnen, dass Japaner im Schnitt nur 16 Tage Urlaub im Jahr haben. Und es gehört zum guten Ton, mindestens die Hälfte davon ungenutzt verstreichen zu lassen. Umso wichtiger ist es, die wenigen verbleibenden Urlaubstage komplett zu füllen. Das erklärt nicht nur die straff durchorganisierten Sightseeing-Touren der Japaner durch Europa, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten eines Kurztrips in eben so ein Onsen Resort, von denen es in Japan über 3.000 gibt.

Zur Begrüßung mussten sie zunächst ihre gesamte Kleidung ablegen und bekamen im Gegenzug einen Bademantel und traditionelle Schlappen ausgehändigt. Der durchschnittliche Japaner ist etwas kleiner als Frank Thelen – und selbst die größte Größe dieser Bademäntel reichte ihm nur bis knapp über die Hüfte.

Anschließend verbrachten sie den halben Tag in einem Thermalbad, dessen Wasser muckelige 41°C hatte. Man wurde auf eine angenehme Art müde, ungefähr so, als hätte man ein paar Saunagänge zu viel eingelegt. Danach gab es Fisch in allen erdenklichen Kombinationen: Sushi und Sashimi aus Lachs, Thunfisch, Krabben, Tintenfisch und einige andere Dinge, die Frank Thelen nicht identifizieren konnte. Das Problem: Er isst keinen Fisch. Er ist einfach mehr der Steak-Typ. Ihm blieb nur der Reiswein, den die Kollegen und er in ziemlich großen Mengen lauwarm tranken. Und dann stellte sich heraus, dass sie mit sechs Leuten, also auch mit den Japanern von Fuji, in einem einzigen Raum schlafen sollten, jeder auf seiner eigenen Reismatte.

Vor ein paar Tagen war er noch First Class geflogen – und jetzt lag Frank Thelen hier auf einer Reismatte, gemeinsam mit schnarchenden Japanern in einer Art Jugendherbergszimmer. Er hatte den halben Tag in heißen Thermalquellen verbracht, nichts gegessen, Reiswein getrunken. Ihm war schwindelig.

Am nächsten Morgen gab es lebende Krabben, Lachs und Thunfisch – keinen Kaffee, kein Rührei, kein Brot. Mittags Thunfisch, Lachs und wieder Krabben. Er wusste: Andere Länder, andere Sitten – aber diese Sitten verlangten ihm einiges ab. Am Abend aber gab es gastronomische Abwechslung. Es wurde eine ganz besondere Delikatesse gereicht: Walsperma! An dieser Stelle stieg Frank Thelen kulinarisch endgültig aus und behauptete, spontan Vegetarier geworden zu sein.

Nach dem Onsen am letzten Morgen auf dem Weg zum Flughafen kamen sie an einem Starbuck’s vorbei, den sie erst einmal plünderten: Kaffee! Käse-Sandwiches! Blaubeer-Muffins! Es war wie im Paradies. Frisch gestärkt und zurück in seiner Welt, ließ Fran Thelen während des Rückflugs nach Deutschland die letzten Tage und Jahre vor seinem geistigen Auge Revue passieren.

ip.labs hatte zu Beginn eine Überlebenschance von 20 bis 30 Prozent gehabt. Es war eine halsbrecherische Aktion gewesen – nur ein Kunde hätte uns auf den zugesagten Termin verklagen müssen und alles wäre vorbei gewesen. Aber die Kombination aus hohem Risiko, vom Produkt überzeugten Gründern und einem Team, das alles für die Firma gegeben hatte, hatte es ermöglicht, einen Weltmarktführer ohne externen Investor aufzubauen.

Es hatte geklappt!

Die Lehmschicht

Frank Thelen hatte vor seinem Verkauf noch nie davon gehört, aber heute weiß er, die “Lehmschicht” hat Ausdauer, wird von starken Seilschaften zusammen gehalten und kann fast jede Innovation lebend verschlingen. Die Rede ist vom mittleren Management großer Konzerne.

Fujifilm hatte vor der Übernahme bereits eine eigene Fotoservice-Software entwickelt, die wirklich unterirdisch schlecht war – genau aus diesem Grund wurde ip.labs ja auch gekauft, um das schlechte durch ein gutes System zu ersetzen. Das obere Management hatte diese vorausschauende Entscheidung getroffen. Aber die mittlere Managementebene wollte ihr eigenes System behalten.

Das ist ein gar nicht so ungewöhnliches Phänomen: In der Businesswelt wird es das “Not-invented-here-Syndrom” genannt. Wenn große Unternehmen kleinere übernehmen, besteht die wahre Führung aus einer in zwanzig Jahren oder länger gewachsenen Lehmschicht des mittleren Managements. Frank Thelen wurde sogar viele Male davor gewarnt, gewisse Themen nicht mit dem CEO, sondern nur mit der mittleren Ebene zu besprechen: “Sonst verlierst du unsere Unterstützung”. Aus diesem Grund würde er keine Woche als Dax-CEO überleben – und er könnte sich vorstellen, dass René Obermann als Chef der Deutschen Telekom damals ähnlich schwierige Situationen im Sinn hatte, als er sagte, er habe manchmal das Gefühl, “mit Handschellen im Boxring zu stehen”.

Aber zurück zu seinen konkreten Problemen mit der japanischen Lehmschicht. Nach einigen Monaten bekam Frank Thelen die für ihn erschütternde Nachricht: “Frank, we decided to stick to the old system for our biggest japanese customer”, also “Frank, wir haben uns entschieden, mit dem alten System bei unserem größten Kunden in Japan weiterzumachen.” Es war zwar nur ein Kunde von vielen hunderten, aber diesen einen wichtigen Kunden in Japan, hatte die Lehmschicht gewonnen. Wirklich frustrierend.

Finanziell hätte es ihm egal sein können – aber eigentlich war er ja angetreten, um alle Kunden auf sein IPS-Produkt zu bringen. Daraus wurde jetzt nichts. Es war für ihn eine schwierige Erfahrung, die es ihm heute jedoch ermöglicht, seine Gründer effektiv zu unterstützen, wenn sie in eine ähnliche Situation kommen. Aber alles in allem war ip.labs eine tolle Erfolgsgeschichte, an die Frank Thelen gerne zurückdenkt, denn sie hat ihm gezeigt: Mit Passion und den richtigen Co-Foundern kann man auch ohne externes Kapital einen Weltmarktführer aufbauen.